Präventionsmodell KinderZUKUNFT NRW

KinderZUKUNFT NRW versteht sich als ein vorbeugendes Konzept zum Kinderschutz und zur frühen Gesundheitsförderung von Kindern aus psychosozial und gesundheitlich belasteten Familien. Aktuell arbeiten 10 Kliniken in Nordrhein-Westfalen nach dem Konzept KinderZUKUNFT: Solingen, Hilden; Netzwerk Kinderzukunft: Brühl; Herne (2 Standorte), Moers (2 Standorte), Wesel; unter dem Namen Babynavi: Duisburg (2 Standorte). Das Programm wurde seit 2012 über die Bundesinitiative Frühe Hilfen und seit 2018 über die Bundesstiftung Frühe Hilfen sowie aus Eigenmitteln der Kliniken finanziert. Seit 2021 erhalten neue Standorte in NRW, so auch in Duisburg „Babynavi“ Zuwendungen über das Programm „Kinderstark-NRW schafft Chancen“ der Landesregierung NRW.

Die Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft unterstützt die Implementierung des Präventionsmodells an weiteren Standorten mit fachlicher Expertise und setzt sich für die Weiterentwicklung und das Qualitätsmonitoring ein. Hierzu wurde ein Handbuch (2. überarbeitete Auflage, 02/2024) für die Umsetzung erstellt, das sich an die Lotsinnen in Geburtskliniken sowie an gynäkologische und pädiatrische Praxen richtet.

Seit 2021 werden über eine geschützt angelegte  Datenbank am Städt. Klinikum Solingen Daten zu den in der Geburtsklinik kontaktierten Müttern anonymisiert erfasst. Ausgewertet wird dabei, wie häufig Familien zum Zeitpunkt der Geburt psychosoziale Belastungen aufweisen und welche Unterstützung sie über Angebote der Frühen Hilfen bekommen.


Zur Weiterentwicklung des Präventionsmodell gehört es, die Erfahrungen der Lotsinnen in den Prozess mit einzubinden. So organisiert die Stiftung Deutsches Forum KinderZukunft Seminare, Workshops und Treffen auch mit anderen Lotsendiensten aus dem Netzwerk.

Seit Gründung des Kinderneurologischen Zentrums am Städt. Klinikum in Düsseldorf Gerresheim (1979) wurden zahlreiche Kinder gesehen, die von ihren Eltern (Müttern, Vätern) schwer misshandelt und vernachlässigt wurden und schwere Folgen für ihre Entwicklung nach sich trugen. Diesen Familien war oft gemeinsam, dass sie von Geburt ihrer Kinder an in prekären familiären Verhältnissen lebten. Sie hatten häufiger selbst eine belastete Kindheit hinter sich, wurden misshandelt, waren psychisch krank, hatten häufiger Konflikte mit ihren Partnern.

In der internationalen Literatur fand sich eine Veröffentlichung von Dr. Kempe (1979), einem Kinderarzt aus Denver in Colorado, in der dieser darstellte, dass sich in 70  Prozent der Fälle eine Kindeswohlgefährdung um die Geburt für die ersten Lebensjahre voraussagen lässt. Er führte dazu Parameter auf, die einen Hinweis darauf gaben.

Diese bildeten die Grundlage für ein 1987 in der Geburtshilfe am Städtischen Klinikum Düsseldorf- Gerresheim begonnenes Präventionsmodell. Dieses bestand in der Früherkennung von psychosozialen familiären Belastungsfaktoren und Hinweisen auf eine frühe Eltern-Kind-Interaktionsstörung. Ausgehend davon wurde  diesen Familien eine Unterstützung von Anfang an in Kooperation mit Jugend-, Gesundheitsamt, Kinder- und Frauenärzten sowie  aufsuchenden Kinderkrankenschwestern angeboten.

2006 Dieses Pilotprojekt fand 20 Jahre später in Zukunft für Kinder in Düsseldorf Nachfolger und wurde schließlich an allen Düsseldorfer Geburtskliniken umgesetzt. Dafür wurde das Düsseldorfer Modell 2006 mit dem 2. Präventionspreis ausgezeichnet:

Das Modell KinderZUKUNFT NRW wurde im Rahmen eines Multicenterprojektes in der Zeit vom 1.9.2010 bis zum 31.8.2012 in sieben Geburtskliniken an sechs Standorten erprobt und durch die beiden nordrhein-westfälischen Landesministerien MGEPA (Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter) und MFKJKS (Ministerium für Familie, Kinder, Jugend Kultur und Sport) sowie die Krankenkassen AOK Hamburg-Rheinland, Vereinigten IKK, BKK Landesverband Nordwest und die Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft finanziert. Projektträger war das IMO-Institut in enger Kooperation mit der Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft. Die Stiftung war dafür verantwortlich, den Kontakt zu den Berufsverbänden der Kinder- und Jugendärzte, Frauenärzte, Hebammen, Kinderkrankenschwestern und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes herzustellen. Die Pilotphase von KinderZUKUNFT NRW wurde 2012 abgeschlossen.

Nach Vorlage des Abschlussberichtes bewertete das MFKJKS den von 2010 bis 2012 erprobten Ansatz „KinderZUKUNFT NRW” als „ein Konzept, mit dem die Umsetzung des Bundeskinderschutzgesetzes in Kooperation von Gesundheitswesen und Jugendhilfe durch die systematische Einbindung von Geburtskliniken für Kinder spätestens mit der Geburt gelingt. Es leistet aus Sicht des MFKJKS einen guten Beitrag zum fachlichen Diskurs“.

„Wir möchten Familien eine Chance auf eine bessere Zukunft geben, damit das Leben gelingt“
Ingolf Rascher
Dipl. Sozialwissenschaftler; Gesundheitsökonom (M.A.) und Mitglied des Kuratoriums

Ziel des Modells ist die Früherkennung der psychosozial belasteten Familien in der Geburtsklinik, möglichst bereits während der Schwangerschaft, und ihre frühe Unterstützung von Anfang an. Das besondere Merkmal ist, dass Früherkennung und Frühe Unterstützungen der Familien primär nicht von der Jugendhilfe, sondern vom Gesundheitswesen ausgehen. In der Geburtsklinik werden nahezu alle Familien erfasst. Das Gesundheitswesen ist Türöffner für die Jugendhilfe auch zu den Familien, die bisher oft Vorbehalte ihr gegenüber haben („Jugendamt nimmt die Kinder weg“). Durch KinderZUKUNFT NRW soll in einer frühen Phase, wenn Kinder noch nicht auffällig sind, aber bereits zusätzlich erhöhte Fürsorgeanforderungen (z.B. Schrei-, Schlaf- und Fütterprobleme, chronische Erkrankungen) an die Eltern stellen, einer Kindeswohlgefährdung vorgebeugt werden. Gleichzeitig können beginnende Entwicklungs- und Verhaltensstörungen bereits im Säuglingsalter früh erkannt und den Familien Frühförderung und Beratung angeboten werden. Dadurch soll der Entstehung von frühkindlichen Entwicklungsproblemen rechtzeitig vorgebeugt werden, die im Kindergarten und/oder Schule zu gravierenden Verhaltensstörungen und ggf. zum Scheitern in der Schule auswachsen können. Für die Vorgehensweise in der Geburtsklinik wurde ein Pathway festgelegt.

Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft

Eine Schlüsselrolle in KinderZUKUNFT NRW nimmt eine Koordinatorin [Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende (FGKiKP) oder/und Familien-Hebamme] in der Geburtsklinik ein. Sie erkennt über ein Screeningverfahren entbindende Mütter mit psychosozialen und gesundheitlichen Belastungen und erfährt in einem eingehenden Gespräch, welche konkreten Belastungen bestehen und welche Unterstützung erforderlich ist. Sie stellt in der Klinik den Kontakt zu Familien-Hebammen und FGKiKP her, die die Familien zu Hause besuchen. Dabei gewinnen sie Einblick in die familiären Verhältnisse und können Belastungen wie persönliche Überforderungen bzw. Probleme in der Familie erkennen. Sie beraten die Familien bzw. kontaktieren mit deren Einverständnis die betreuenden Kinderärzte und – falls erforderlich – die Jugendhilfe, die sich um die weiterführende Unterstützung “kümmern”.

Die Koordinatorinnen, die Familienhebammen und/oder Familien-Gesundheits-Kinderkrankenpflegende (FGKiKP) sind, erhalten bei schwierigen Fällen eine Fallberatung durch einen dafür verantwortlichen Arzt in der Geburts- oder Kinderklinik. Eine klinikinterne bzw. – externe Fallsupervision findet monatlich statt. Eine Hospitation an Geburtskliniken, die über längere KinderZUKUNFT Erfahrungen verfügen, ist möglich. Seit 2017 liegt ein Handbuch zur Umsetzung Früher Hilfen in KinderZUKUNFT mit Handlungsempfehlungen und Mindeststandards vor. Es bietet die Grundlage für eine weitere Qualifizierung der Koordinatorinnen.

Vorgehen und Umsetzung von KinderZUKUNFT NRW orientieren sich an einem gleichen Standard. Als Arbeitsinstrumente stehen ein Risikoinventarbogen in der Geburtsklinik und jeweils ein anamnestischer und Monitoring-Bogen in der gynäkologischen und pädiatrischen Praxis mit dazu gehörenden Manualen zur Verfügung. Das Modell geht über die Initiierung Früher Hilfen für belastete Familien und die Einbeziehung der Jugendhilfe bei entsprechendem Unterstützungsbedarf hinaus. Sie verfolgt die weitere Entwicklung der Kinder, insbesondere wenn zusätzliche Belastungen und Fürsorgeanforderungen an die Eltern gestellt werden. Hierdurch soll in einer sehr frühen Phase über die Akteure des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe Unterstützung und Beratung angeboten und ggf. koordiniert werden. Alle ein bis zwei Monate finden regelmäßig Gespräche im Rahmen eines runden Tisches in der Geburtsklinik statt. Dabei werden schwierige Fälle anonymisiert besprochen und beraten. Teilnehmer sind die an den Fällen beteiligten Mitakteure von Gesundheitswesen, der Frühförderung, Beratungsstellen und der Jugendhilfe. Obligatorische Teilnehmer sind die Koordinatoren in der Geburtsklinik und der Jugendhilfe.

KinderZUKUNFT NRW ist ein Baustein Früher Hilfen in der Kommune und fügt sich in die Regelversorgung im Gesundheitswesen ein. Es ist ein Modell, das nicht ein bereits funktionierendes Netzwerk vor Ort ersetzt, sondern es ergänzt und sich hier einfügt, die vorhandenen Ressourcen und Akteure (neben der Jugendhilfe Schwangerenberatungsstellen, Patenschaften, Wellcome und andere) einbezieht und sich mit ihnen abstimmt. Das Vorgehen findet vorwiegend im Rahmen der Regelversorgung des Gesundheitswesen (Geburtshilfe, Kinderklinik, Hebammen-Nachsorge, Vorstellungen bei Kinder- und Frauenärzten einschließlich Vorsorgeuntersuchungen und Beratung, Frühe Hilfen der Gesundheitsämter) statt. Ein wichtiges Merkmal ist, dass Gesundheitswesen und Jugendhilfe nicht – wie häufig bisher – nebeneinander, sondern miteinander arbeiten. Wesentlich dabei ist, dass beide konstante Ansprechpartner (Koordinatoren) haben und sich gut kennen.

Fachübergreifende und fallbezogene Netzwerkkonferenzen finden in zeitlich unterschiedlichen Abständen an jeweils festgelegten Tagen (z. B. 2. Donnerstag alle zwei Monate) statt. Sie werden von der Koordinatorin in der Geburtsklinik bzw. der Jugendhilfe einberufen und eine von beiden moderiert. Sie finden in der Regel in der Klinik statt. An diesen Konferenzen nehmen die an den Fällen beteiligten Professionen bzw. Institutionen, Vertreter aus dem Bereich der Wohlfahrtsverbände, Jugendamt, Frühförderung, FGKiKP, Familienhebammen ein niedergelassener Frauen- und Kinderarzt sowie – soweit möglich – verantwortliche Fachärzte der Kinder- oder Frauenklinik teil.